Historie

Das Kinder-Mehrzweckturngerät „Greifswald“
Als meine beiden Söhne 1960 – damals drei- und einjährig – Kindergarten bzw. Kinderkrippe besuchten, interessierte ich mich besonders für die körperliche Bildung und Erziehung in diesen Einrichtungen. Dabei stellte ich fest, dass nur wenige Sportgeräte – vorwiegend Bälle, Reifen und Springseile – sowie zwei Turnbänke vorhanden waren. Zu dieser Zeit baute ich in der HSG Wissenschaft der Universität Greifswald gerade Übungsgruppen für drei- bis sechs­jährige Kinder auf. Für deren spielerisch-sportliche Aktivitäten durfte ich die umfangreichen Sportanlagen und -geräte des Instituts für Körpererziehung nutzen. Der Vergleich mit der eher bescheidenen Ausstattung der Kindertagesstätten weckte in mir den Wunsch, für die Vorschuleinrichtungen ein Turngerät zu entwickeln, das einfach eingesetzt und vielfältig genutzt werden kann. Mit Hilfe eines variablen Gerätes sollten Bewegungs- und Wachstumsreize vermittelt und damit die vielseitige, gesunde, körperliche Ausbildung der Heranwachsenden gefördert wer­den.
Dazu zählten:

  • die Entwicklung der Motorik in Form der konditionellen Fähigkeiten wie Kraft, Schnelligkeit und Ausdauer und der koordinativen Fähigkeiten wie Gewandtheit, Beweglichkeit und Geschicklichkeit sowie
  • die Ausbildung grundlegender Bewegungsfertigkeiten und deren Verknüpfung zu komplexen Bewegungshandlungen wie Kriechen, Ziehen, Schieben, Steigen, Balancieren, Rollen, Stützen, Springen, Klettern, Hangeln, Schwingen, Stoßen, Werfen und Fangen.

Außerdem sollte das Gerät folgende Anforderungen erfüllen:

  • mehrere Geräte nach dem Baukastenprinzip in sich vereinen,
  • schnell auf-, um- und abbaubar sein,
  • vielseitige Übungen ermöglichen,
  • von mehreren Kindern gleichzeitig genutzt werden können,
  • die erforderliche Standsicherheit gewährleisten,
  • einen unkomplizierten Transport (der Einzelteile) garantieren,
  • preiswert herzustellen sein und
  • durch geringe Abmessungen auf kleinstem Raum abgestellt werden können.

Ausgehend von diesen Überlegungen entwickelte ich ein Mehrzweckturngerät, das aus fol­genden Teilen bestand:

  • je zwei Grundgeräten (turmförmige Kombinationen aus Sprossenwand, Leitern und Klet­terstangen), Kastendeckeln, Leitern, Rutschen, Barrenholmen, Basketballkörben und Standsicherungsbalken, die zu einem Schwebebalken zusammengefügt werden können,
  • einem Metallrahmen für die Montage des Schwebebalkens, einem Hochsprung- bzw. Kindervolleyballnetz und zwei passenden Befestigungsvor- richtungen.

Jede zweite Sprosse der verwendeten Grundgeräte war nicht fest verankert, sondern mit ei­nem Gewinde eingeschraubt. Sie konnte leicht entfernt und zusätzlich als Gymnastikstab verwendet werden.

Die Einzelteile des Turngerätes passten genau ineinander. Daher war das zusammengelegte Gerät nur 160 cm lang, 60 cm breit und 100 cm hoch. Es wurde aus Esche gefertigt und durch einen farblosen Lacküberzug wetterfest gemacht. Der gepolsterte Kastendeckel war mit rotem Kunstleder bezogen.

Das Kinderturngerät bzw. dessen Einzelteile konnten vielfältig eingesetzt werden, z. B als Klettergerüst in Flach-, Seit- oder Hochkantstellung, Sprossenwand, Gymnastikstab, Schwe­bebalken mit 8 cm und 15 cm Breite, Turnbank, Kletterstange, Leiter in schräger oder waage­rechter Lage sowie auch als Handgerät, Doppelleiter, Rutsche, Sprungbrett, Reck, Doppel­reck, Barren, Stufenbarren, Kasten in Längs- oder Querstellung sowie in schräger oder waa­gerechter Lage, Basketballkorb, Zielwurfring, Kindervolleyball- bzw. -hochsprungnetz. Die zahlreichen Nutzungsmöglichkeiten ließen sich durch das Variieren der einzustellenden Gerätehöhen noch erweitern.

Das Kindervolleyball- bzw. -hochsprungnetz war 250 cm lang und 15 cm breit. Es konnte als Hindernis beim Ballweitwerfen und Pritschen sowie für Vorübungen zum Volleyballspiel genutzt werden. Außerdem war das Netz statt der sonst üblichen schmalen Schnur oder Latte beim Hochsprung zu verwenden. Die Kinder konnten damit die zu überspringende Höhe bes­ser erkennen.

Gefördert durch das Staatliche Komitee für Körperkultur und Sport produzierte der VEB Sportgerätewerk „Fanal“ in Karl-Marx-Stadt 1962 die ersten Geräte. Sie wurden vom Institut für Körpererziehung und dem Kindergarten der Universität Greifswald sowie vom Institut für Bewegungslehre der Deutschen Hochschule für Körperkultur (DHfK) Leipzig erfolgreich ge­testet. Der Direktor des letztgenannten Instituts, Prof. Dr. Kurt Meinel, äußerte sich dazu wie folgt: "Das Mehrzweckgerät ‚Greifswald’ eignet sich vorzüglich für eine vielseitige und ziel­gerichtete Ausbildung der Bewegungsfähigkeiten und -fertigkeiten im Vorschulalter. Ein besonderer Vorzug besteht darin, dass das Gerät auf vielfache Weise verwendbar ist, als Klettergerüst, Sprossenwand, Turnbank, Reck, Barren, Kasten, Leiter usw. Dadurch bietet es nicht nur vielfältige Bewegungsanreize, sondern ermöglicht auch ein freudvolles und abwechslungsreiches Sichbewegen und gleichzeitiges Üben von mehreren Kindern.“

Zunächst sollte das Gerät auf der Frühjahrsmesse 1962 ausgestellt werden. Da ich jedoch noch einige Korrekturen vornehmen ließ, lehnte „Fanal“ die Präsentation zu diesem Zeit­punkt ab. Anlässlich der 1. Wissenschaftlichen Konferenz der DDR zu Problemen der Körpererziehung in der Unterstufe wurde das Gerät am 9. Juli 1962 in Greifswald erstmals öffentlich vorgestellt. Am 14. Februar 1963 teilte das Staatliche Komitee für Körperkultur und Sport in einer Presseinformation mit, dass das Gerät nach monatelanger Erprobung zur Leipziger Frühjahrsmesse als Testmuster vorgestellt werden soll. Noch am gleichen Tag veröffentlichte die Sportredaktion des „Allgemeinen Deutschen Nachrichtendienstes“ (ADN) die Mitteilung, dass ich die vielseitige Verwendbarkeit des Gerätes in Kindergärten und Schulen mit mehreren Kindergruppen im Herstellerwerk vor Pädagogen und Pressevertretern demonstriert habe: „die als historikerin taetige eleonore salomon hatte sich vor allem in ihrer freizeit mit der wertvollen neuentwicklung beschaeftigt, in der sie ihre bei praktischer arbeit in vorschuleinrichtungen gesammelten erfahrungen auswertete.“

Drei Wochen später, am 8. März 1963, informierte ADN ferner: „wie erwartet, wurde das von der wissenschaftlichen assistentin ... neuentwickelte ... mehrzweckturngeraet ... zu einer attraktion. taeglich am vormittag und nachmittag herrscht grosser andrang im leipziger bruehl, wo an dem testgerät vorschulkinder unter der obhut von wissenschaftlichen mitarbeitern der dhfk mit eifer ihr koennen darbieten ...“1. Und unter dem Stichwort „Pro­duktion ab 1964“ erklärte der Produktionsleiter Kreher vom „Fanal“-Werk dem Nachrich­tendienst: „unsere ersten erfahrungen mit den kindern und die ersten bewerbungen aus schweden, belgien sowie von kindergaerten, schulen, wohngruppen und ferienheimen der ddr zeigen, dass dieses geraet eine grosse perspektive hat“.

Die Zeitschrift „FÜR DICH“, Nr. 25/1963, widmete der Vorführung des Gerätes in den Schaufenstern des Leipziger Kaufhauses am Brühl einen zweiseitigen Bildbericht unter dem Titel „Ein Ding mit ‘nem Pfiff“. Außerdem berichteten alle Tageszeitungen der DDR über das Gerät, einige sogar mehrfach. Natürlich informierten auch Radio DDR I und II sowie der Deutsche Fernsehfunk in „Sport-Mix“. Selbst die „Österreichische Volksstimme“ brachte noch am 31. August 1963 einen Bildbericht über die Vorführungen am Gerät zur Frühjahrsmesse.

Am Sonntag, dem 31. März 1963, ließ ich in einer Fernsehsendung mit Meister Nadelöhr und Heinz Quermann einige Vorschulkinder aus dem Heim Berlin-Johannisthal am Gerät üben, ebenso am 13. Juli 1963 in einer Fernsehsendung zur Ostseewoche in Rostock. Die Aufzeichnung der Berliner Sendung existiert leider nicht mehr, die Rostocker umfasst nur zwei Minuten. Auch während des IV. Deutschen Turn- und Sportfestes 1963 wurde das Gerät in Aktion vorgeführt und erntete Beifall vom Publikum: Gästen aus der ČSSR, Belgien, Frankreich, der VAR und einigen jungen afrikanischen Nationalstaaten.

Zur Leipziger Frühjahrsmesse 1963 waren 200 Bestellungen eingegangen. Das patentierte Gerät wurde seit 1964 von einer Thüringer PGH produziert. Ende 1964/Anfang 1965 erhielten 58 Vorschuleinrichtungen der DDR das Gerät vom Ministerium für Volksbildung zur Erprobung. Nach acht bis zwölf Monaten berichteten 34 Kindertagesstätten vorwiegend sehr positiv über ihre Erfahrungen, kritisierten aber auch einige Produktionsmängel (der Bericht liegt vor).

Seit 1962 führte ich im Einvernehmen mit der Forschungsgruppe für vorschulische Körper­erziehung am Institut für Bewegungslehre der DHfK und der Fachabteilung des Ministeriums für Volksbildung zahlreiche Weiterbildungslehrgänge für Kindergärtnerinnen in den Bezir­ken Rostock und Neubrandenburg durch. In mehreren Fachzeitschriften der DDR wie „Körpererziehung“, „Neue Erziehung im Kindergarten“ und „Wissenschaftliche Zeitschrift der Ernst-Moritz-Arndt-Universität Greifswald“ stellte ich das Mehrzweckturngerät vor.

Auch in ausländischen Fachorganen wurde darüber informiert: So berichtete Prof. Dr. F. Kratky aus Prag mit Wort und Bild in Nr. 8/1964 der tschechoslowakischen Zeitschrift „Predskolská výchova“, Dr. N. Petrova in 4/1964 der bulgarischen „Wiprosi na fisitscheskaja kultura“ sowie L. Koltschewskaja und W. Sawelewa sehr ausführlich in 4/1966 der sowjetischen „Doschkolnoje wospitanie“. Die polnische „Wychowanie fizyczne i higiena szkolna“ 5-6/1969 veröffentlichte nach kurzen Bemerkungen der Redaktion 14 Abbildungen von übenden Kindern an verschiedenen Aufstellungsformen des Gerätes.

Seit 1963 gehörte das Kinderturngerät „Greifswald“ jedes Jahr zu den Exponaten der DDR-Sportartikelmesse. Über die Anfang September 1969 stattgefundene „Expotiva 69“ berichtete u. a. das „Deutsche Sportecho“ am 3. 9.: „Unter einem orangefarbenen, an den Seiten offenen Spannzelt von großem Ausmaß steht in zwölf verschiedenen Variationen das Mehr­zweckgerät ‚Greifswald’ aufgebaut.“ Die Tageszeitung „Neues Deutschland“ hatte das Gerät am Tag zuvor noch immer als „Messeschlager“ bezeichnet. Und der Regierungschef hatte hinzugefügt: „Das hier ist sehr gut.“

Seit den 70er Jahren zählte das Gerät zur Grundausstattung der DDR-Kindergärten. Ein kompletter, aus zwei Grundgeräten bestehender Satz kostete 870,30 Mark der DDR. Bedau­erlicherweise gibt es weder Zahlen zur Gesamtproduktion noch zum Export. Verbürgt ist jedoch, dass allein 300 Geräte nach Havanna geliefert wurden. Das bestätigten Dr. Gerhard Lewin – von 1953 bis 1968 als Leiter des Instituts für Schwimmen an der DHfK tätig und von 1974 bis 1976 vom Schwimmverband der DDR zur Traineranleitung nach Kuba delegiert – und dessen Ehefrau Käthe. Die beiden hielten sich gerade in diesem mittelameri­kanischen Land auf, als mit der Lieferung ein erhebliches Malheur passierte: Man hatte die Geräte ohne das 42-seitige illustrierte Material, das nicht nur den Gebrauch des Gerätes veranschaulichte, sondern auch zahlreiche Übungsanleitungen enthielt und das ich vorsorglich in die englische und spanische Sprache hatte übersetzen lassen, versandfertig gemacht ...

Bis 1989 wurde das Gerät in hoher Stückzahl produziert und vom Zentralen Einkaufsbüro für Sportartikel mit Sitz in Berlin verkauft, vorrangig an Kindergärten. Exportiert wurde es vor allem ins sozialistische Ausland, Hauptkunde war Ungarn mit jährlich 400 Stück (der genaue Zeitraum ist leider nicht bekannt).

Auf Grund von neuen Anforderungen des TÜV durch die Norm EN 71 entwickelte der Thüringer Betrieb 1990 aus dem Greifswalder Gerät das Kinderspiel- und Turngerät „Ge­schwenda“, das an Kindergärten, Schulen oder Gemeinden verkauft wurde. Alljährlich stellte das Unternehmen 200 Geräte her. Im Jahr 2000 wurde es kaum noch nachgefragt und deshalb nicht mehr produziert. Der Hersteller hatte die Maße einzelner Teile erheblich verändert, so dass das Baukastenprinzip verloren gegangen war, und neue Teile wie Bodenplatten mit Filz, Hochsprungseil, Sonnensegel (!), Ballwurffläche und Verkleidung für eine Puppenbühne (!) hinzugefügt.

Leider war das Kinder-Mehrzweckturngerät „Greifswald“ nicht in meinem Besitz, so dass ich es dem Leipziger Sportmuseum auch nicht zur Verfügung stellen konnte. Dafür überließ ich der Einrichtung die Geräte-Begleitpublikation in deutscher und englischer Sprache sowie einige Dokumente. Sicher existieren in zahlreichen Kindergärten diese Geräte noch heute, in manchen vielleicht nur Teile davon. Nach einer Studie aus dem Jahre 2000 über Bewegung, Sport und Spiel an 20 Greifswalder Kindertagesstätten nutzten noch 50 % dieser Einrich­tungen das Mehrzweckturngerät. In einer Pirnaer Kindertagesstätte entdeckte ich ein Grund­gerät, die Einzelgeräte wie Leitern, Rutschen usw. fehlten dagegen. Möglicherweise ließe sich mit einzelnen Teilen aus mehreren Einrichtungen noch ein komplettes Gerät für das Sportmuseum Leipzig zusammenstellen.

Dr. Eleonore Salomon

Verfasst für: Ausgabe 2-3/2005 der Zeitschrift des Sportmuseums Leipzig

Anmerkung:
1Mitarbeiterinnen der Forschungsgruppe Vorschulkinderturnen vom Institut für Bewegungslehre der DHfK demonstrierten während der Frühjahrsmesse 1963 täglich von 10 bis 12 und von 15 bis 17 Uhr in den Schaufenstern des Leipziger Kaufhauses am Brühl mit Vorschulkinder-Sportgruppen die vielfältigen Einsatzmöglichkeiten des Gerätes.